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Denk-Anstöße

Siebzehntausendfünfhundert - oder die selbstständige Armut


E. Heinz-Joachim Hill,  23. Juli 2019

Der „German Mittelstand“ ist eine von vielen anderen Volkswirtschaften beneidete Besonderheit. Diese kippt gerade. Und das liegt sicherlich nicht alleine an der zunehmenden Globalisierung. Vieles ist hausgemacht.


Die Politik hat sich in der Nachkriegszeit primär für notwendige Verbesserungen für Arbeitnehmer und Verbraucher eingesetzt. Das hat zu einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel geführt, der die Einkommenserzielung von Arbeitern, Angestellten und Beamten aufs Schild hebt und Erwerbseinkommen aus selbstständiger Arbeit mit einem weit verbreiteten Hautgout belegt. Heute sind die schwächsten Erwerbstätigen die Ein-Personen- und Kleinstunternehmen. Diese sind selbständig tätig; in Deutschland gehören sie nicht zur Gruppe der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU).


Erinnern Sie sich noch an die sogenannte Ich AG? Zwischen 2003 und 2006 wurden Arbeitslose mit einem Gründungszuschuss des Arbeitsamtes aus der Arbeitslosenstatistik heraus und in die Selbstständigkeit hinein gelotst. Das Instrument der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik war Teil des Gesetzespakets „Hartz II“, das zum 1. Januar 2003 in Kraft trat. Der Zuschuss sollte – so war das formulierte Ziel – arbeitslose Schwarzarbeiter aus der Illegalität heraus locken. Senflädchen, Glücksberatung, Autositter, Journalistenbüros – vieles funktionierte, aber nicht alles. Sehr beliebt war das Instrument bei Frauen, die sich neben der Familie und dem Einkommen des Hauptverdieners als Teilzeit-Selbstständige ein eigenes kleines Einkommen erwirtschafteten.
Heute gibt es mehr als 2,4 Millionen sogenannte private Selbständige. Das sind Klein(st)unternehmer, oft kleinste Gewerbetreibende oder Freiberufler, die ihren Lebensunterhalt entweder im Haupt- oder Nebenverdienst bestreiten als Hinzuverdienst neben einem Hauptverdiener, als Hinzuverdienst zu Sozialleistungen, im handwerklichen oder landwirtschaftlichen Nebenbetrieb, als Kioskbesitzer, oder in der Zimmervermietungen. Sie alle eint ein Merkmal: ihre jährlichen Umsätze betragen maximal 17.500 Euro – ganz gleich, ob im Nebenverdienst oder als Haupternährer der Familie.


Wirtschaften am Existenzminimum



Lassen Sie uns einmal rechnen: 17.500 Euro Jahresumsatz (ohne Umsatzsteuer) entsprechen bei monatlich gleichbleibender Verteilung 1.458 Euro. Umsatz wohlgemerkt, nicht Einkommen! Denn da sind noch keine Betriebsausgaben, keine (Sozial-)Versicherungsbeiträge und anderes mehr abgezogen. Der Mindestbetrag für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung liegt bei rund 190 Euro. Der monatliche Mindestbeitrag von freiwilligen Zahlern in die gesetzliche Rentenversicherung beträgt momentan 83,70 Euro. Zahlt man diesen Betrag für das gesamte Jahr 2019, so erhöht sich die monatliche Regelaltersrente um gerade einmal 4,45 Euro. Für wirkungsvolle Vorsorge – ob in die gesetzliche Rentenversicherung oder in ein privates Produkt – muss man schon deutlich in die Tasche greifen. Für Selbstständige, so wenig sie auch verdienen, gibt es keinen Arbeitgeber, der die Hälfte der Sozialversicherungsbeiträge trägt. 


Hinzu kommen auch für diese Kleinunternehmer Ausgaben für Miete/Pacht, Ausstattung von Büro, Ladenlokal oder Werkstatt, Telefon, Versicherungen, Buchhaltung und Steuerbüro, Wareneinsatz und je nach Tätigkeit auch Kosten für den Firmenwagen. Was bleibt als tatsächliches Einkommen im Sinne der Finanzamts-Terminologie zur Steuer Ermittlung übrig? Nehmen wir einmal an, die Betriebskosten betragen 500 Euro im Monat (was eher eine unterste Grenze darstellt), dann bleiben 684,30 Euro zur privaten Verwendung – für Wohnungsmiete, Strom, Heizung/Warmwasser, Nebenkosten, Hygiene, Essen, Bekleidung, Mobilität, Kultur, Bildung, soziale Kontakte. Wen wundert es da, dass im vorigen Jahr (2018) im Jahresschnitt 82.440 Selbstständige Aufstockungsmittel von der Bundesanstalt für Arbeit bezogen haben, in der Mehrheit übrigens Männer (46.731). 


Realitätsferner Ansatz


Das Rechenkonstrukt, das der 17.500-Euro-Umsatzgrenze zugrunde liegt, ist realitätsfern. Dieser Betrag kann allenfalls einen Grundbedarf abdecken, nicht aber Mehrbedarfe, die jemand hat, der unternehmerisch tätig ist. Allein die Pfändungsfreigrenze, die bestimmt, was jemandem, der eigenes Einkommen erzielt, als Lebensminimum zugestanden wird, liegt bei 1.179 Euro.
Eine weitere Problemstellung ergibt sich daraus, dass die Einkünfte von Kleinst- und Ein-Personen-Unternehmen eben nicht regelmäßig fließen. Bei Einkünften, die gerade einmal die Grundbedürfnisse abdecken, können keine Reserven vorgehalten werden, um unternehmerische Eventualitäten abzudecken und Phasen zu überbrücken, in denen keine Einkünfte erzielt werden. Die meisten Insolvenzen und Unternehmensaufgaben entstehen in Deutschland durch fehlende Liquidität – und oft unabhängig davon, ob das Geschäftsmodell in sich funktioniert.


Lassen Sie uns noch einmal rechnen: Als im Jahr 1980 die Kleinunternehmerregelung, so wie wir sie heute kennen, eingeführt wurde, lag die Grenze bei 20.000 D-Mark (10.226,84 Euro). Das entspricht einer heutigen Kaufkraft in Höhe von rund 2.256 Euro. Würde man eine vergleichbare Kaufkraft zugrunde legen, müsste die Grenze heute bei 46.482 Euro liegen.


Ein-Personen- und Kleinstunternehmen fliegen mit ihren Besonderheiten unter jeglichem Radar hindurch. Sie dürften – bedingt durch ihre Heterogenität – nicht in der Lage sein, ihre Interessen wirksam zu vertreten. Das Beispiel zeigt, dass die Kategorisierung von Unternehmensgrößen rein nach Umsatz nicht sinnvoll ist. Im Fall der Kleinstunternehmen nicht. Und auch nicht bei der Bildung anderer Unternehmenskategorien. Denn sie sind geprägt von einem Denken jenseits jeglicher Erfahrung und jeglichen Verständnisses für unternehmerische Abläufe. Lesen Sie dazu demnächst mehr in meinem Blog.

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